Die Findelfrau - Roman by Amelie Fried

Die Findelfrau - Roman by Amelie Fried

Autor:Amelie Fried [Fried, Amelie]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne
veröffentlicht: 2013-12-15T23:00:00+00:00


Holly blickte auf, direkt in die kühlen Augen von Hegmann hinter den randlosen Brillengläsern.

»Das ist die letzte Nachricht, die ich nach ihrem Verschwinden von meiner Tochter erhalten habe«, sagte er. »Fast vier Jahre hat sie sich Zeit gelassen, um uns zu schreiben. Meine Frau war damals schon tot.«

Holly wartete, aber er sagte nichts mehr, so als wäre es nun an ihr, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Sie räusperte sich. »Ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Mein Gott, denken Sie doch nach!«, polterte er ungeduldig.

»Sie wollen sagen …«, begann Holly erneut, aber er unterbrach sie.

»Ihre Vermutung war richtig. Meine Tochter hatte sich mit einem jungen Mann eingelassen, dessen Familie aus Ägypten stammte. Sie sind wohl das Resultat.«

Seine Worte trafen sie wie ein Faustschlag.

Sie sind wohl das Resultat.

Ungläubig starrte sie ihn an. So einfach war es also. Und sie hatte es geahnt, gegen alle Wahrscheinlichkeit .

»Haben Sie … ich meine, wussten Sie, dass Ihre Tochter ein Kind erwartet?«, fragte sie schließlich.

»Nein. Ich hatte keine Ahnung. Wir hatten damals wenig Kontakt mit unserer Tochter. Um die Wahrheit zu sagen, wir waren völlig mit ihr zerstritten. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie mir zumute war, als Sie neulich hier aufgetaucht sind mit diesem … Kissenbezug.«

Er wandte sich ab, offensichtlich um seine Bewegung vor ihr zu verbergen.

Hollys Gedanken schienen sich zu überschlagen. Richtig, der Bezug. In dem Moment hatte sich in seinem Gesicht etwas gerührt und Holly hatte den Eindruck gehabt, er würde etwas wiedererkennen. Ihre Geschichte allein hätte nicht genügt, er ahnte damals ja nicht einmal, dass seine Tochter ein Kind zur Welt gebracht hatte.

»Dann sind Sie also tatsächlich …«, begann Holly ungläubig, »… Ihr Großvater«, fiel er ihr ins Wort. »Aber, bitte, keine Sentimentalitäten.«

Diesen Hinweis hätte er sich sparen können; Holly war keineswegs nach Gefühlsausbrüchen zumute. Seine reservierte Haltung lud dazu auch nicht ein.

»Was … was war der Grund für den Streit mit Ihrer Tochter?«, fragte sie stattdessen.

Er machte eine unwillige Handbewegung, als wäre es ihm lästig, sich mit den alten Geschichten zu befassen. Aber da er sich nun einmal entschlossen hatte, mit ihr zu sprechen, ließ er sich schließlich doch zu einer Antwort herab.

»Politik«, sagte er knapp.

Politik? Man konnte sich mit dem eigenen Kind so sehr über politische Ansichten zerstreiten, dass dieses Kind auf Nimmerwiedersehen verschwand?

»Was meinen Sie genau?«, fragte Holly nach.

»Ich war ein Anhänger der sogenannten Kulturrevolution«, erklärte er, »achtundsechzig, Sie wissen schon. Ich war keiner von den Jungen, die unreflektiert die Parolen der anderen nachplapperten. Ich war schon älter, hatte Philosophie und Politik studiert, ich wusste, wovon ich sprach. Meine Tochter war völlig unpolitisch. Sie weigerte sich, die Notwendigkeit des Umsturzes zu erkennen, gab sich dem Eskapismus hin. Das haben wir nicht ertragen, meine Frau und ich. Heute halte ich die meisten Ideen von damals übrigens für verfehlt. Ein riesiger Irrtum, eine große Lebenslüge, das nur am Rande.«

Holly begann zu ahnen, warum dieser Mann so verbittert war.

»Eskapismus?«, hakte sie schüchtern nach.

»Sie wurde religiös«, brach es voller Verachtung aus ihm heraus. »Mit sechzehn hat sie sich taufen lassen. Mit siebzehn verkündete sie, sie wolle ins Kloster gehen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.